Ich liebe es zu reisen. Ob mit Bus, Bahn oder Auto. Sogar zu Fuß. Ich würde auch gerne mal ein Stück den Jakobsweg gehen. Aber das traue ich mir noch nicht wirklich zu. Dafür muss ich einfach noch mehr trainieren.
Aber obwohl ich so gerne unterwegs bin, habe ich keinen eigenen Führerschein. Das finde ich ganz erstaunlich. Als ich erwachsen wurde, habe ich mich in der Fahrschule angemeldet. Aber bereits nach der ersten Stunde, merkte ich, ne, das ist nichts für mich. Das spiegelt irgendwie mein Leben. Ich habe mich immer fahren lassen. Fühlte mich sicher in der Obhut des jeweiligen Fahrers.
Das hängt wohl mit meinen ersten Kinderjahren zusammen. Da gab es meinen Bruder noch nicht und meine Eltern waren noch ineinander verliebt. Oma und Opa lebten noch in ihren eigenen Haushalt. Meine Mutter war sehr lieb und zart und so hat sie mich auch geliebt. Für meinen Vater war ich die Prinzessin. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Wir lebten in einer Straße am Waldrand in einer kleinen, heilen Welt. Das war so, bis mein Bruder zur Welt kam. Durch seine Geburt änderte sich mein Leben radikal. Unser Zimmerchen, in dem wir sieben Jahre gelebt hatten, wurde zu klein. Mein Vater verdiente damals als junger Handwerker noch nicht genug, um sich eine teure Wohnung leisten zu können. Opa, der im öffentlichen Dienst war, schon. Er bekam eine große Wohnung, in die wir alle sechs einziehen konnten. Und er nahm Papa gleich mit in den öffentlichen Dienst. Die beiden fuhren auf der Straßenbahn als Schaffner.
Wir zogen also weg aus der Beschaulichkeit in die Stadt. Für mich wurde das in vielfacher Hinsicht zu einem Neuanfang. Plötzlich war ich große Schwester und Schulkind und musste mich in einer völlig fremden Umgebung, ohne meine beiden vertrauten Freunde Max und Kalle, zurechtfinden.
Und noch eine Änderung fand statt, wenn auch schleichend. Oma übernahm immer mehr die Führung zu Hause und die Mutterrolle. Für ihre Tochter aber auch für mich und meinen Bruder. Das hatte zweierlei Auswirkungen. Zum einen auf mich, denn ich erlebte meine Mutter plötzlich eher wie eine Schwester. Akzeptierte sie irgendwann auch nicht mehr als Mutter. Und zum anderen auf meine Mutter. Auf sie hatte die Veränderung eine echt gravierende Auswirkung. Sie wurde immer unsicherer und verlor letztendlich den Kampf mit dem Leben.
Und ich? Ich ging auf die Reise. Real aber vor allem auf dem Papier. Ich schrieb Geschichten. Lebensgeschichten, brutal und immer wieder mit Missbrauch. Allerdings nie, wie mir später aufgefallen ist, Missbrauch an der Frau, sondern der männlichen Person der Geschichte. Und immer war die Frau der Rettungsanker und die Starke. Das ist mir natürlich erst viel später aufgefallen. Meine Therapeutin sagte mal, ich sollte meine Geschichten auf die weibliche Rolle und deren Bedeutung in meinen Geschichten untersuchen. Da begann meine erste echte Reise in die Vergangenheit. Mit echt meine ich, der ich mich tatsächlich stellte. Alle anderen „Reisen“ waren immer an der Oberfläche geblieben.
Ich habe auch heute noch Probleme mit meiner Vergangenheit. Da gibt es immer noch zu viele unbekannte „Orte“. Orte, die mir Angst machen, zu denen ich aber irgendwann hinreisen muss. Und denen ich mich irgendwie auch stellen muss. Denn dabei sind Stationen, die in mein heutiges Leben hineinragen. Die es mir schwer machen, das Steuer in die eigene Hand zu nehmen.
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